Ihr Wegweiser für Sicherheits- und Veranstaltungsneuigkeiten
Ihr Wegweiser für Sicherheits- und Veranstaltungsneuigkeiten
Inverkehrbringer und Betreiber müssen in der fahrdynamischen Prüfung nachweisen, dass ihre Züge definierte Bogenradien oberhalb der zugelassenen Höchstgeschwindigkeit sicher durchfahren können und die Strecke nicht beschädigen. Für die Tests mangelt es jedoch teils an geeigneten Streckenabschnitten. Ein umfassendes Sicherheitskonzept erschließt neue Prüfstrecken.
Durch zahlreiche Sicherheitsvorkehrungen und systembedingte Sicherheitsmechanismen erreicht der Schienenverkehr, im Vergleich zu anderen Verkehrsarten, ein relativ hohes Sicherheitsniveau. Um dieses zu erhalten, werden neue Fahrzeuge während der Typentests nach den vorgeschriebenen Regelwerken geprüft, bevor sie für den Betrieb zugelassen werden. Dass jede Fahrzeugeinheit sicher fährt und dabei den Fahrweg nicht zu stark beansprucht, hängt wesentlich vom dynamischen Fahrverhalten ab. Daher ist die fahrtechnische Prüfung ein wichtiger Teil im Zulassungsprozess, der bereits bei der Entwicklung eines neuen Schienenfahrzeugs mit in den Blick genommen werden muss. Mit Simulationen kann beispielsweise die Fahrdynamik frühzeitig optimiert werden und die hierbei gewonnenen Simulationsdaten können zudem – laut neuer Regelungen wie bspw. EN 14363:2019 – die üblichen Messdaten zumindest teilweise ersetzen. Das reduziert unter Umständen die Dauer kostenintensiver Streckenversuche.
Die Streckenversuche und die Beurteilung des dynamischen Fahrverhaltens werden von unabhängigen Prüfstellen durchgeführt. Im Verlauf muss nachgewiesen werden, dass die in der europäischen Norm EN 14363 festgelegten Grenzwerte der Fahrsicherheit und Fahrwegbeanspruchung eingehalten werden. So wird sichergestellt, dass der Zug weder entgleist noch die Gleise verschiebt oder anderweitig überlastet.
Das Gewicht und die Lastverteilung auf den Radsätzen des Fahrzeugs sind maßgeblich für die Radaufstandskraft (bzw. Radlast, bezeichnet mit Q), die senkrecht zwischen Rad und Schiene wirkt. Die Seitenführungskraft (Y) wird quer zur Fahrtrichtung gemessen. Beide Größen sind entscheidend für die Beurteilung der Fahrsicherheit. Ist die Summe der Führungskräfte zu groß, können unter Umständen die Gleise verschoben werden. Übersteigt die Seitenführungskraft die Radaufstandskraft deutlich, droht das Fahrzeug durch Aufklettern des Spurkranzes auf die Schiene zu entgleisen. Der sicherheitsrelevante Grenzwert der Führungskraft ist daher abhängig von der Radaufstandskraft. Grundsätzlich gilt: je größer Q, desto höher auch der Grenzwert für Y. Gleichzeitig darf der Quotient aus Führungskraft und Radkraft (Y/Q) bei einem Bogenradius von mehr als 250 m nicht über 0,8 liegen. Nur in Ausnahmefällen sind maximal 1,2 erlaubt.
Beide Kräfte spielen auch bei der Beurteilung der Fahrwegbeanspruchung eine zentrale Rolle. Eine zu starke Abnutzung der Schiene würde die Instandhaltungskosten für die Infrastruktur in die Höhe treiben. Daher gelten Grenzwerte für die quasistatische Führungskraft und die quasistatische Radkraft. „Quasistatisch“ ist der Messwert, der in der fahrdynamischen Prüfung über längere Zeit konstant bleibt. Die maximale Radkraft darf zudem nicht mehr als 90 Kilonewton (kN) über ihrem quasistatischen Wert liegen.
Auf ein Schienenfahrzeug, das durch einen Gleisbogen fährt, wirkt eine Beschleunigung quer zur Fahrtrichtung (Zentrifugalbeschleunigung). Sie ist abhängig vom Radius (bzw. Bogenhalbmesser) und der Fahrzeuggeschwindigkeit. Mit einer baulichen Überhöhung des Gleises lässt sie sich teilweise ausgleichen. Dafür wird die bogenäußere Schiene angehoben, beziehungsweise die bogeninnere Schiene abgesenkt. Vollständig eliminieren lässt sich die Seitenbeschleunigung jedoch nicht, da im Betrieb unterschiedliche Fahrzeuge mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten den Bogen durchfahren und auch im Falle eines Stillstands im Bogen nicht umkippen dürfen. Der Betrag der Überhöhung ist deshalb abhängig vom Bogenradius und der maximalen Befahrgeschwindigkeit. Die theoretisch nötige Überhöhung zum Ausgleich der Seitenbeschleunigung lässt sich rechnerisch ermitteln und wird als Überhöhungsfehlbetrag bezeichnet.
Die EN 14363 unterteilt die fahrtechnischen Streckenprüfungen in vier Prüfbereiche mit unterschiedlichen Abschnittslängen und Bogenradien. Dabei gelten unterschiedliche Anforderungen an die Geschwindigkeit und den Überhöhungsfehlbetrag des zu prüfenden Fahrzeugs.
Im ersten Bereich wird die Stabilität des Fahrzeugs bei Höchstgeschwindigkeit und realem Verschleißbild des Betriebs untersucht. Stabilitätsprobleme treten tendenziell bei hohen Geschwindigkeiten auf gerader Strecke auf, daher fallen in diesen Bereich vor allem gerade Streckenabschnitte, die das Fahrzeug mit zehn Prozent über der für die Zulassung angestrebten Höchstgeschwindigkeit durchfahren muss. In den weiteren Prüfbereichen wird das Verhalten in Gleisbögen bewertet. Prüfbereich 2 enthält große Bogenradien (über 600m), die mit bis zu zehn Prozent über der Fahrzeughöchstgeschwindigkeit durchfahren werden. Dabei wirken nun große Zentrifugalkräfte, weshalb vor allem die dynamischen Anteile der Beurteilungsgrößen ins Gewicht fallen. In den Prüfbereichen 3 und 4 wird das Fahrzeug bei geringeren Geschwindigkeiten in Gleisbögen mit kleinem (400-600 m) und sehr kleinem (250-400 m) Radius geprüft. Hierbei sind die dynamischen Anteile in den Beurteilungsgrößen eher gering, die quasistatischen Anteile in den Führungs- und den Radkräften steigen hingegen an. In den Prüfbereichen 2 bis 4 wird ein Überhöhungsfehlbetrag von bis zu zehn Prozent über dem Zulassungswert angestrebt.
Schon während der Versuchsplanungen müssen die benötigten Trassen bei der Netzbetreiberin ausgesucht und bewertet werden. Eine ideale Versuchsstrecke umfasst gerade Streckenabschnitte und zahlreiche Bögen mit unterschiedlichen Radien, um möglichst viele der vorgeschriebenen Prüfbereiche abzudecken und Trassenwechsel zu vermeiden. Die genauen Eigenschaften und die Mindestlänge der Prüfstrecken hängen dabei von den Zulassungsparametern des Fahrzeugs ab. Aus der Summe der Anforderungen kann sich unter Umständen eine sehr kleine Anzahl geeigneter Strecken ergeben. Oftmals reduzieren zudem betriebliche, bautechnische oder formelle Gründe die Auswahl. Dadurch werden der Zeit- und Kostenaufwand für die Streckenversuche erheblich erhöht. Eine geschickte Auswahl des Prüfverfahrens, eine umfassende Planung und ein durchdachtes Sicherheitskonzept können diesen Aufwand minimieren und neue Möglichkeiten eröffnen.
Die auf die Durchführung von Testfahrten im Bahnverkehr spezialisierte RailAdventure GmbH aus München wurde mit der Durchführung von Streckenprüfungen für einen norwegischen Hochgeschwindigkeitszug beauftragt. Dieser sollte für eine Höchstgeschwindigkeit von 245 Stundenkilometern (km/h) zugelassen werden und musste daher Bögen mit Radien von weniger als 3.000 Metern mit ca. 270 km/h durchfahren. Nach intensiven Gesprächen mit der Netzbetreiberin wurden in Deutschland zwar die normativ geforderten Bögen gefunden, jedoch war das Fahrleitungssystem auf diesem Streckenabschnitt nur für Geschwindigkeiten bis maximal 230 km/h zugelassen. Hohe Geschwindigkeiten beeinflussen signifikant die Kontaktkraft des Stromabnehmers und damit auch den Fahrdrahtanhub. Steigt dieser zu stark an, kann dies die Oberleitung beschädigen. Hinzu kam, dass der norwegische Zug das in Deutschland übliche Lademaß überschritt und über keine deutschen Zugsicherungssysteme verfügte. RailAdventure musste der Netzbetreiberin daher nachweisen, dass die zugelassene Höchstgeschwindigkeit der Strecke für den Test gefahrlos überschritten werden konnte. Gemeinsam mit den Sachverständigen der Projektpartnerin TÜV SÜD Rail GmbH und in enger Zusammenarbeit mit der Netzbetreiberin wurde ein Konzept entwickelt, mit dem die Fahrten ermöglicht werden sollten.
Im ersten Schritt wurden Simulationsrechnungen über das Zusammenwirken des Stromabnehmers mit der Oberleitung bei Übergeschwindigkeit durchgeführt und bewertet. Nachdem die Signale für den Streckenversuch auf Grün standen, musste im nächsten Schritt sichergestellt werden, dass der Fahrdrahtanhub während der Testfahrten innerhalb der zulässigen Grenzen bleibt. Der Anhub wird stationär an nur wenigen Punkten der Strecke gemessen, daher müssen sie die gesamte Strecke repräsentieren. Um diese kritischen Stellen zu finden, wurde die Strecke mit Oberbau-Messfahrzeugen abgefahren. Anschließend wurde der Stromabnehmer mit norwegischem Profil (1800 mm statt 1950 mm Breite) gemeinsam mit dem Hersteller – bei Tests auf einer für diese Geschwindigkeiten zugelassenen Strecke – so optimiert, dass die bei 270 km/h auftretenden Kräfte denen bei der regulären Fahrt mit 230 km/h entsprachen. Dadurch konnte das Gesamtverhalten so optimiert werden, dass trotz der deutlich überhöhten Geschwindigkeit der Fahrdrahtanhub auch an der kritischsten Stelle der Strecke innerhalb der zulässigen Grenzen bleiben sollte. Als weitere Sicherheitsmaßnahme wurden die Fahrten in Einzeltraktion mit nur einem Stromabnehmer durchgeführt. Das minimiert die Wellenbewegung der Oberleitung im Vergleich zu einer Fahrt mit mehreren angehobenen Stromabnehmern.
Im Anschluss an diese Optimierungsphase begannen die fahrtechnischen Prüfungen auf der ausgewählten Strecke. Nach anfänglichen Fahrten mit der streckenseitig zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 230 km/h wurde die Geschwindigkeit – mit Blick auf die Messergebnisse von den Kontaktpunkten zu Schiene und Oberleitung – schrittweise bis zur Maximalgeschwindigkeit gesteigert.
Die Kontaktkraft lag nun jedoch bei geringeren Geschwindigkeiten unter dem normativen Toleranzbereich. Im Anschluss waren deshalb weitere Schritte nötig, damit der Stromabnehmer die zulassungsrelevanten Grenzwerte einhält. Die spezielle aerodynamische Optimierung war entscheidend, um den Anpressdruck zwischen Schleifleiste und Fahrdraht für die Testfahrten exakt einstellen zu können.
Alle Maßnahmen zusammen ermöglichten, dass die erforderlichen Streckentests absolviert werden konnten – ohne den Stromabnehmer, die Oberleitung und die Strecke übermäßig zu beanspruchen oder gar zu beschädigen. So konnte der norwegische Zug erfolgreich zugelassen werden, obwohl ursprünglich keine geeignete Strecke zur Verfügung stand. Das Beispiel zeigt, wie Inverkehrbringer und Betreiber mit angepassten Verfahren, einer umfassenden Projektplanung und fachlicher Expertise eine größere Auswahl an Teststrecken für die Prüfung von Hochgeschwindigkeitszügen in Deutschland und Europa erhalten.
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