1866 – 1900
1866 – 1900
Am 6. Januar 1866 gründen 22 badische Unternehmer die „Gesellschaft zur Ueberwachung und Versicherung von Dampfkesseln mit dem Sitze in Mannheim“.
Erster Vorsitzender wird der Fabrikant Carl Selbach. Die Unternehmer reagieren damit auf ein Unglück, das sich rund ein Jahr zuvor in der Brauerei zum „Großen Mayerhof“ ereignet hat.
Ein Riss in der Hülle des in der Brauerei eingesetzten Dampfkessels hat dabei zu einer Explosion geführt. Ein Toter und mehrere Verletzte sind zu beklagen.
Ein geschulter Techniker hätte den Mangel leicht entdecken und die Katastrophe verhindern können. Doch regelmäßige Inspektionen haben nicht stattgefunden. Das Bedienpersonal ist mit den Gefahren des Kesselbetriebs kaum vertraut.
Das Unglück ist kein Einzelfall und die Anzahl der Dampfkesselbetreiber steigt schnell. Sowohl die Regierung im Großherzogtum Baden als auch die potenziell betroffenen Industriellen unterstützen daher die Gründung eines Revisionsvereins. Durch regelmäßige Überprüfungen der Kessel sollen künftige Unglücksfälle verhindert werden.
Das Modell macht Schule und die Mannheimer Gründung wird zum Ausgangspunkt der technischen Überwachung in Deutschland.
Am 13. Oktober 1868 tritt in Mannheim der soeben 29 Jahre alt gewordene Ingenieur Carl Isambert seinen Dienst an. Er ist der erste hauptamtlich tätige Sachverständige eines technischen Überwachungsvereins in Deutschland.
Bereits wenige Tage später unternimmt Isambert eine erste Inspektionsreise. Das Ergebnis ist ernüchternd: Etliche Kessel weisen gefährliche Mängel auf. Besitzer und Kesselwärter verstehen vielerorts nicht einmal die Grundlagen von Anlagensicherheit. Isambert hilft, wo er kann.
Ein Jahr später zieht er auf der Mitgliederversammlung des Mannheimer Vereins Bilanz: Akute Explosionsgefahr bestehe bei keinem der geprüften Kessel mehr.
Am Nikolaustag des Jahres 1869 tritt der Kupferfabrikant Abraham Lismann ans Rednerpult des Polytechnischen Vereins in München. Lismann hat seine Bühne gut gewählt, denn zu seinen Zuhörern zählen viele der angesehensten Naturwissenschaftler und Techniker im Königreich Bayern.
Lismann, der in seinem Unternehmen selbst drei Dampfkessel betreibt, regt die Gründung eines „Vereins zur Prüfung und Überwachung der Dampfkessel für das diesrheinische Bayern“ an.
Die Anwesenden, unter ihnen der Konstrukteur Carl Linde und der Brauereibesitzer Gabriel Sedlmayr, setzen umgehend einen Ausschuss ein, um den Plan umzusetzen. Dieser Kreis erarbeitet eine gedruckte Broschüre samt Statutenentwurf für den zu gründenden Verein, die allen Kesselbetreibern im geplanten Einzugsgebiet zugestellt wird. Auch in Augsburg, Bayreuth, Nürnberg und Würzburg findet die Idee Zustimmung.
Am 23. April 1870 wird der Bayerische Dampfkessel-Revisionsverein (BDRV) bei einer Versammlung im Pavillon des Englischen Caféhauses in München aus der Taufe gehoben. Erster Vorsitzender wird der Lokomotivfabrikant Georg Krauss.
Walther Gyssling, Chefingenieur des Bayerischen Dampfkessel-Revisionsvereins, kann stolz sein, als er den Mitgliedern über das Geschäftsjahr 1877 Bericht erstattet. Seit fünf Jahren ist keiner der mehr als 1.000 Dampfkessel, die vom Verein überwacht wurden, explodiert. Von solchen Erfolgsquoten sind die staatlichen Prüfer, die parallel zu den Prüfern des BDRV agieren, weit entfernt: An von ihnen begutachteten Anlagen kommt es allein im Jahr 1878 in Bayern zu zwei Explosionen.
Auch in Württemberg, wo ein Dampfkessel-Revisionsverein 1875 entsteht, verzeichnet die selbstverantwortliche technische Überwachung beeindruckende Erfolge: In seinem ersten Jahresbericht 1877 berichtet der Stuttgarter Vereinsingenieur Heinrich Bellmer, dass er in den vergangenen zwölf Monaten nicht weniger als 172 mit unmittelbarer Explosionsgefahr verbundene Mängel behoben habe.
Inzwischen gibt es fast überall in Deutschland Dampfkessel-Revisions- vereine. Doch noch kann jeder Sachverständige weitgehend selbst entscheiden, was er unter einer ordnungsgemäßen Funktion versteht. Obwohl bereits seit 1873 der deutsche Verband von Dampfkessel-Überwachungsvereinen existiert, gibt es keine verbindlichen Standards für die Sicherheit von Dampfkesseln.
Doch zwischen Mai und Juni 1881 einigt sich der Verband mit dem Verein deutscher Eisenhüttenleute auf Grundsätze zur Materialprüfung beim Bau von Dampfkesseln.
Mit diesen so- genannten Würzburger Normen setzt die technische Überwachung erstmals schon beim Bau der Kessel an, um die Wahrscheinlichkeit von Unfällen im Voraus zu minimieren.
In dieselbe Richtung weisen die 1884 verabschiedeten Hamburger Normen, die Richtlinien für die Berechnung der Kesselkörper aufstellen.
Auch jenseits der deutschen Grenzen findet die Idee der technischen Überwachungsvereine immer mehr Anhänger. Einige ausländische Vereine sind inzwischen sogar dem in Hannover beheimateten Verband von Dampfkessel- Überwachungsvereinen beigetreten.
Deshalb benennt sich die deutsche Dachorganisation 1888 in Internationaler Verband von Dampfkessel-Überwachungsvereinen um. Während die Politik noch fast ausschließlich in nationalen Kategorien denkt, steht für die Pioniere der technischen Überwachung außer Frage, dass Sicherheit nicht vor Ländergrenzen haltmachen darf.